Immerwährendes Gedenken - Zur Esterwegen-Fahrt der Klassen 10de

01.12.2022 · Redaktion

Der Besuch der Gedenkstätte Esterwegen durch die Geschichtskurse 10d (Dr. Markus Gärtner) und 10e (Dr. G. Wagner-Kyora) fand bei schönstem Herbstwetter statt, was dem Anlass irgendwie nicht ganz gerecht werden konnte. Nach einer ausführlichen Einführung durch Frau Andrees, Oberschullehrerin aus Esterwegen, hatte die Gruppe die Gelegenheit, das Gelände der Gedenkstätte zu begehen. Angefangen beim Mittelgang erschloss Frau Andrees kundig und sehr sensibel die noch sichtbaren und die unsichtbar gewordenen Spuren des ersten Konzentrationslagers im Deutschen Reich, das bereits im Frühjahr 1933 den Nazi-Terror gegen politisch Verfolgte in sogenannten Strafgefangenenlagern, später: Konzentrationslagern, durch immense Gewaltausübung pervertierte.
Die Besonderheiten der 2010/11 realisierten Gedenkstättenarchitektur liegen darin, mittels Naturmaterialien wie als Bodenbelag verteilten Massen von kleinformatigen Basaltsteinen als Begehflächen und größeren Baumgruppen als Anmutung der Umrisse von Häftlingsbaracken eine Ahnung von der räumlichen Geschlossenheit des Nazi-Terror-Lagersystems in einem Gelände zu geben, in dem fast keine materiell sichtbaren Spuren mehr erhalten sind. Auch der mental schwer fassliche Kontrast von außergewöhnlich umfangreicher Freizeitarchitektur mit Schwimmbad, Sportbahn und Erholungsteich samt Springbrunnen für die Lagerbewacher und den katastrophal unzureichenden Häftlingsbaracken offenbarte die mörderische Absichten des Regimes in vielen Details und vor allem dessen Zynismus gegenüber allen Nicht-Nazis, die hier als Feinde rechtlos in der Diktatur interniert waren. Hierzu zählt allen voran der Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky, der hier monatelang gefoltert worden ist und 1936 an den Folgen verstarb.
Später wurden sowjetische, vor allem russische, aber auch polnische Kriegsgefangene zu den massenhaften Objekten einer mörderischen Aushungerungs- und Vernichtungspolitik in Esterwegen, der schätzungsweise 20.000 Gefangene dort zum Opfer fielen.
Dies als Leidensgeschichte der Vielen erfahren zu können und während lernintensiver Stunden an einem als Arbeitslager getarnten Schreckensort permanenter Gewalttaten nachempfinden zu können, ist eine einmalige Gedenkstättenleistung, die andernorts nicht erfahrbar gemacht werden könnte.
Auch der daran anschließende Gang durch die umfangreiche Dauerausstellung sowie eine abschließende Bilanz der Geschichte des Aufbaus der Gedenkstätte im Vortragssaal wurden aufmerksam als eine außerschulische Form der Geschichtsarbeit begangen und aufgenommen.
Dass der Tag bei den Schüler*innen durchaus zu Erkenntnissen führte, zeigte sich in der abschließenden Reflexionsrunde: Als ungreifbar „surrealistisch“ umschrieb eine Schülerin ihre Gefühle und Gedanken zum Erfahrenen, „unvorstellbar für eine 15jährige“ wie sie, die mit Jahrzehnten historischem Abstand in der rechtsstaatlich-fürsorgenden Bundesrepublik aufgewachsen sei. Dass Menschen so mit Menschen umgehen konnten, diesbezüglich fehlte es auch einer anderen Schülerin an wie auch immer gearteter intellektueller Zugriffsmöglichkeit – da helfe nur das Schweigen als emotionale Annährungen an die Opfer.
Sich der Vergangenheit immer neu zu stellen, ist eine der Kernaufgaben gymnasialen Geschichtsunterrichts; gerade in einer Zeit, in der es wieder eine extrem rechtsradikale Partei im Deutschen Bundestag gibt und Politiker, die per Gerichtsurteil als „Faschisten“ bezeichnet werden dürfen – und dennoch gewählt werden. Wir stehen nicht am Ende einer „Bewältigung“, vielmehr wird unser gemeinsamer Auftrag des immerwährenden Gedenkens virulenter. Deshalb sind Erfahrungen wie ein Termin in der Gedenkstätte Esterwegen so unverzichtbar für das Geschichtsverständnis junger Leute und auch ihrer Lehrer*innen, die genauso betroffen wie sie das Gelände verlassen.

Bilder: Marieke Heidemann, 10d