Rückblick auf das Schuljubiläum 1923

29.09.2023 · Werner Menke

Werner Menke, Lehrkraft von 1975 bis 2009 am Mariengymnasium, hat einen Artikel zum Schuljubiläum 1923 als Rückschau geschrieben. Das war eine Zeit schlimmster Krisen und damit mit unserer heutigen durchaus zu vergleichen. 

Den Artikel befindet sich unten.

Schuljubiläum 1923 Menke
Die erste Auflage des Stadtführers ‚‚Jever. Die Stadt der Kunst, der Sage und Geschichte‘ von Carl Woebcken (1878 – 1965) erschien zum Heimatfest 1921. Der Preis betrug 5,- Mark. Für die Ausgabe im Jahr des Schuljubiläums war er auf das 2000fache gestiegen (Anzeige im JW 28.8.1923). 

Im Zeichen des Schlossturms – das Schuljubiläum des Mariengymnasiums vor 100 Jahren

Das Mariengymnasium Jever feiert in diesem Jahr das 450-jährige Jubiläum seines Bestehens. Ihren heutigen Namen trägt die Schule seit der 300-jährigen Stiftungsfeier im Jahr 1873. Als ihr eigentlicher Gründungsakt gilt das Aufsetzen eines Testaments durch Fräulein Maria, in dem die letzte einheimische Regentin knapp zwei Jahre vor ihrem Tod verfügte, dass in Jever eine höhere Lateinschule errichtet werde, an der „fünf gelehrte Gesellen“ die Schüler der Herrschaft „getreulich“ unterrichten sollten. Dieses Testament datiert vom 22. April 1573, doch spielte dieses Datum bei den diesjährigen Jubiläumsfeierlichkeiten keine herausragende Rolle, erstrecken sich diese doch über das gesamte Schuljahr. 

Die gegenwärtigen Festveranstaltungen, die ihren Höhepunkt in der großen Festwoche vom 28. August bis 2. September haben, mögen Anlass geben, auch auf frühere Jubiläumsveranstaltungen zurückzuschauen, und da bietet sich der Blick auf das Jahr 1923 an, als man das 350-jährige Jubiläum beging. Seinerzeit besuchten 196 Schüler das Gymnasium (Quelle: JW 11.8.1923), die am Freitagabend einen Fackelzug durch die Stadt veranstalteten (JW 25.8.1923). Zwei Drittel der Schüler stammten aus Jever und dem Jeverland, „ein Drittel aus Preußen“, d. h. aus dem Harlingerland. Heute ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler mehr als fünfmal so hoch, aus dem ostfriesischen Nachbarkreis kommen seit Gründung der Alexander-von-Humboldt-Gesamtschule in Wittmund 1975 nur noch wenige. 

Die Feiern von 1923 fanden vor dem Hintergrund der Ruhrkrise, der Hyperinflation und hoher Arbeitslosigkeit statt, welche die junge Weimarer Republik in größte Bedrängnis brachten. Auch damals hatte man auf ein Fest am 22. April verzichtet und die Gründungsfeierlichkeiten, zu denen eine Festschrift mit dem Abdruck des kommentierten Testaments von 1573 (Autor: Karl Hoyer, Lehrer am MG von 1917 – 1926) sowie einem „Schulalbum“ (Autor: Heinrich Ommen, Lehrer am MG von 1903 - 1933) erschien, auf die Tage vom 23. bis 25. August gelegt. Der Einladung waren viele ehemalige Schüler gefolgt, die jetzt fern von Jever lebten und beim großen Festakt im Concerthaus am Freitag, 24.8., vom Schulleiter Studiendirektor Schwarz eigens begrüßt wurden. Schwarz fuhr in seiner Begrüßung fort: „Wir grüßen [auch] die früheren Schüler an Rhein und Ruhr, denen es nicht vergönnt ist, unter uns zu weilen“ (JW 28.8.1923). Mit dem Einmarsch von französischen und belgischen Truppen in das Ruhrgebiet im Januar 1923 infolge unzureichender deutscher Reparationsleistungen war das Ruhrgebiet besetzt und vom übrigen Deutschland abgeriegelt worden, so dass ein normaler Reiseverkehr nicht mehr möglich war. Die Reichsregierung rief zum passiven Widerstand gegen die Besetzer auf, was zu Arbeitsniederlegungen bei Bahn, Behörden und Industriebtrieben führte. Die Löhne für die Streikenden wurden größtenteils vom Deutschen Reich weiterbezahlt, zudem trug die sogenannte ‚Ruhrhilfe‘ mit einer Vielzahl von Solidaritätsaktionen zur finanziellen Unterstützung für das Ruhrgebiet bei. Die Schüler des Mariengymnasiums veranstalteten z. B. Sammlungen, als deren Ergebnis im Februar 1923 die Summe von 101.705,-M und im April/Mai die Summe von 100.650,-M überwiesen werden konnte (Quellen: JW 25.2.1923 u. JW 19.5.1923), im August gingen allein von der Obertertia (= 10. Klasse) 100.000 M ein (JW 25.8.1923).

Dass die Spendenerträge von Schülersammlungen im sechsstelligen Bereich lagen, erklärt sich mit der inflationären Geldentwertung, die sich als Folge der Aufblähung des Haushalts durch die staatlichen Zahlungen für das Ruhrgebiet eingestellt hatte und im Laufe der nächsten Monate unvorstellbare Ausmaße annahm. Wer während der Jubiläumstage die Aufführung der ‚Antigone‘ durch Schüler im Concerthaus besuchen wollte, musste für einen Sitzplatz je nach Kategorie 150.000 M bzw. 100.000 M bezahlen, für einen Stehplatz waren immerhin noch 40.000 M zu entrichten (Quelle: JW 21.8.1923). Für einen Liter Gerstensaft, der bei dem vielfachen geselligen Zusammensein von Ehemaligen in jeverschen Gaststätten sicher in großen Mengen ausgeschenkt wurde, mussten in jenen Tagen gar 200.000 M ausgegeben werden. Ganz besonders von der Inflation betroffen war wegen stark gestiegener Personal- und Materialkosten übrigens das Pressewesen, viele Zeitungen stellten ihr Erscheinen ein oder reduzierten Seitenumfang und Erscheinungstage. 

Der Hauptfesttag des Schuljubiläums war Freitag, der 24. August. Er wurde mit einem Festgottesdienst um 10.30 Uhr eröffnet, bei dem unter anderem der Schulchor unter Leitung des Zeichenlehrers Georg von der Vring auftrat. Im Anschluss fand ab 11 Uhr im Concerthaus der eigentliche Festakt mit verschiedenen Ansprachen und Grußworten statt. Der Vertreter des Landes Oldenburg, Ministerialrat Wesser, bedauerte, dass er mit leeren Händen kommen müsse. „Die Not der Zeit macht es uns schwer, unsere hohen Schulen aufrecht zu erhalten. So müsse er sich heute damit begnügen, Dank und Anerkennung auszusprechen für das, was das Mariengymnasium in den letzten 50 Jahren seines Bestehens für Volk und Heimat geleistet […] Das Mariengymnasium begeht einen Gedenktag in einer Zeit schwerer Not.“ (JW 28.8.2023)

Am Nachmittag fand dann die bereits erwähnte Aufführung des Sophokles-Schauspiels ‚Antigone‘ in einer Übersetzung von Prof. Bader (1843 – 1904) statt, der bis September 1903 am Mariengymnasium unterrichtet hatte; alle Rollen, auch die weiblichen, waren durch Schüler besetzt. Am Freitagabend schließlich traf man sich nach dem um 20.30 Uhr beginnenden Fackelzug zum Festkommers im Concerthaus, wo man bis zum frühen Morgen des Samstags geselligem Zusammensein frönte, getreu dem Motto: „Wo man […] die Nacht in Saus und Braus trotz Polizei verbringt / Das ist mein Jeverland.“ Aus der Vielzahl von launigen Beiträgen bei diesem Kommers sei ein Gedichtvortrag von Pastor Adolf Düser hervorgehoben, der, 1871 in Jever geboren, 1891 am Mariengymnasium sein Abitur abgelegt hatte und seit 1910 als Pfarrer in Vechta wirkte. Zitiert seien hier die beiden ersten der insgesamt acht Strophen:

Wie bin so gern ich wieder eingefahren

In Dich, du kleine, liebe, alte Stadt,

Die mich dereinst vor vielen, langen Jahren

So freundlich bei sich aufgenommen hat.

Jetzt bin ich da, jetzt bin ich da!

Ich trete jubelnd ein!

Wie will ich wieder fröhlich sein!

 

Von fernher sah ich schon den Schlossturm ragen,

Wie sieht er stolz und majestätisch aus 

Ein starker Held! Er will uns allen sagen 

„Ich halte Wacht in Sturm und Wetterbraus,

Drum haltet aus, drum haltet aus! 

Einst strahlt der Freiheit Licht,

Das durch die dunklen Wolken bricht.“

(Quelle JW 29.08.23)

 

Der Schlossturm wird in dieser „Zeit schwerer Not“ („Sturm und Wetterbraus“; „dunkle Wolken“) gleichsam zum Garanten künftiger besserer Zeiten, der den Jeveranern Mut zuspricht.

Eine vergleichbare Personalisierung des Turms findet sich auch in der ausführlichen Berichterstattung der in Oldenburg erscheinenden ‚Nachrichten für Stadt und Land‘ über das Schuljubiläum in Jever. Autor des namentlich nicht gekennzeichneten Beitrags ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der Chefredakteur Wilhelm von Busch, der in der Heimatbewegung der Zeit eine wichtige Rolle spielte. Der Artikel beginnt mit folgender Einleitung:

„Wiederum schmunzelt der ehrwürdige Schloßtum aus seinem Zwiebelkopfe. Ein großes Wiedersehen feiert er [   ] in den heurigen Augusttagen sind wiederum liebe alte Freunde und Bekannte zum traulichen Jever geeilt, um schöne Jugenderinnerungen wieder wachzurufen. Und es ist, als strecke der altersgraue Recke all den lieben bekannten Gesichtern seine Arme entgegen zum herzlich=heimischen Willkommengruß. Seine alten Mauerzinnen neigen wiederholt, bedächtig sinnend, das Haupt. Sie wissen alles […]“ (27.8.)

Die Fortsetzung in der Folgenummer endet mit folgendem Bild:

„Abschied. Heimwärts fahren sie wieder […] Und noch lange schauen sie vom Schienenwege auf das allmählich schwindende Stadtbild. Ja, er ist noch zu sehen, der alte Recke mit dem Zwiebelkopf. Er winkt ihnen zu … Habt Dank!....Ich bleibe wie einst, bleibt auch Ihr, wie Ihr ward [sic!] jung, jung im Herzen!“ (Nachrichten für Stadt und Land, 28. 8. 1923)

Die „kleine, liebe, alte Stadt“, das „trauliche Jever“ – Jever, das sich seit dem großen Heimatfest des Jahres 1921 mit dem Beinamen „die Stadt der Kunst, der Sage und Geschichte“ schmückt (so der Titel von Carl Woebckens Stadtführer), wird stilisiert zu einer biedermeierlichen Idylle, deren kleine Welt trotz aller existenziellen Krisen der großen Welt noch in Ordnung ist.

Überragt wird diese geordnete, behagliche Welt vom Turm des jeverschen Schlosses, der gleichsam über das Wohlergehen der Bürger wacht und ihnen eine bessere Zukunft verspricht. Sein Bild hatte bereits einen der drei Erinnerungsscheine geziert, die der Heimatverein anlässlich des Heimatfests 1921 in Form von Notgeld herausgegeben hatte. Versehen war der mit der Aufschrift: „Du büst min Sehnen, du büst min Stolt / Du Torn van Jever ut Steen un Holt.“ Auch Georg von der Vring, der von 1919 bis 1928 in Jever lebte und am Mariengymnasium unterrichtete, hat diesen Turm in einem Holzschnitt festgehalten, der den 1925 erschienenen Band ‚Südergast‘ ziert, der von der Doppelbegabung von der Vrings als Lyriker und Künstler zeugt. Zudem versuchte der Lyriker den Turm mit einem Gedicht zu besingen:

Weit übers Land zum Meere

Aufragt ein alter Turm.

Er ragt ob einer Stadt. 

[…]

Doch das Gedicht blieb unvollendet, vielleicht weil die jeversche Zeit des Dichters glücklos endete. Persönliches Unglück (von der Vrings Ehefrau Therese starb 1927) und zunehmende politische Anfeindungen durch die in Jever schon früh die öffentliche Meinung dominierenden Nationalsozialisten führten dazu, dass von der Vring am 8. Oktober 1928 die Stadt fluchtartig verließ. 

Sein Schicksal zeigt deutlich, dass die friesische Kleinstadt nie die Idylle war, zu der sie in den sentimentalen Schilderungen des Schuljubiläums 1923 verklärt wurde. Und heute kann von einem „traulichen“ Jever erst recht keine Rede mehr sein. Die „kleine, alte“ Stadt ist in Fläche und Einwohnerzahl erheblich gewachsen, viel von der alten Bausubstanz ist verloren gegangen, auch durch die Altstadtsanierung, der u.a. das Drostenhaus zum Opfer fiel, das von 1818 bis 1900 das Mariengymnasium bzw. die Provinzialschule (so der frühere Name) beherbergte. Und der Schlossturm musste seine Position als höchster Punkt der Stadt an den 1973 errichteten Fernmeldeturm an der Anton-Günther-Straße abtreten. 

Vieles also hat sich seit dem Jubiläumsjahr 1923 geändert, aber wie damals erleben wir auch jetzt, 100 Jahre später, eine Zeit der Krisen (Ukrainekrieg; Klimawandel), die zwar anders geartet, aber nicht weniger bedrohlich sind als die seinerzeitigen, die letztlich mit dazu beigetragen haben, den Weg Deutschlands in die Nazi-Diktatur zu ebnen. So wird auch das derzeit zu feiernde 450 jährige Gründungsjubiläum nur vor dem Hintergrund eines tiefen Krisenbewusstseins begangen werden können.

Bild 2: Auch die Preise für Bier hatten astronomische Höhen erreicht (Anzeige im JW 28.8.1923).

Bild 3: Am Sonntag, 2. April 1922, wurde in Jever eine große Bismarckfeier mit zahlreichen auswärtigen Gästen veranstaltet. Dazu hatte der Bauverein für die Bismarckwarte drei Notgeldscheine zum Stückpreis von 1,- Mark herausgegeben; der Verkaufserlös sollte als Baugeld für die geplante (aber dann nie realisierte) Gedenkstätte dienen. Überzählige Bismarck-Notgeldscheine wie auch weitere alte Notgeld-Gedenkscheine wurden 1923 zum Schuljubiläum verkauft und dazu mit einem eigenen Aufdruck versehen. Inschrift: Notschien as Boosteen för de Bismarcktorn in Jever. Umschrift um den Bismarckkopf: Mag ook de Welt ut Fugen gahn, / In Leev to die blieft fast wi stahn. Die zweifache Wertangabe (1 Mark) und das runde Mittelbild ergeben die Zahl 101 als Anspielung auf die 101 Kiebitzeier, welche die Getreuen dem Kanzler jedes Jahr zum Geburtstag schickten.

Bild 4: Der Schlossturm Jever - Holzschnitt von Georg von der Vring aus dem Band ‚Südergast‘ von 1925